Sa, 08. August 1998:

Der Konvent tanzte erst zum Schluß

13 Tage lang arbeiteten die Verfassungsrechtler auf Herrenchiemsee in strenger Klausur – jetzt erinnert ein Museum an die historische Stätte

Von Robert Jaquet
und Berit Schmiedendorf

Sie kommen mit der Edeltraud, mit Irmingard und Ingrid. Manche nehmen auch den alten Ludwig Fessler, einen ehemaligen Salonraddampfer, in dessen Bauch längst ein moderner Dieselmotor eingezogen ist. Eine Million Fahrgäste hat die Chiemsee-Schiffahrt im Jahr, und die meisten haben dasselbe Ziel: die Herreninsel. 538 722 Menschen pilgerten vergangenes Jahr zur Versailles-Kopie König Ludwigs II., dem Neuen Schloß. Sie alle mußten auf ihrem Weg dorthin das Alte Schloß passieren. Doch betreten hat es keiner.

50 Jahre zurück: Mit einem Dutzend Besuchern am Tag herrschte im August 1948 auf der Herreninsel touristische Eiszeit. Der Sommer war ziemlich verregnet, und die Währungsreform mit 40 Mark Startkapital ließ einfach keinen Raum für kostspielige Vergnügungstouren. Familie Huber, seit 1909 Pächter des Schloßhotels auf der Herreninsel, hatte schon das Personal entlassen, als die Rettung aus München kam: Ein „Ausschuß von Sachverständigen in Verfassungsfragen“ sollte am 10. August auf der Insel in der für nötig erachteten Abgeschiedenheit zusammentreten und dort binnen 13 Tagen einen Entwurf für ein Grundgesetz zustande bringen. Die Wirtsleute beorderten ihr Personal zurück.

22 000 Mark Telephonkosten

„Es war eine wunderschöne Zeit“, erinnert sich Max Huber, der inzwischen 76 Jahre alte Sohn des damaligen Wirts, an die beiden Augustwochen auf der Insel. Tag und Nacht müssen die Konvent-Teilnehmer damals beraten, diskutiert und um Formulierungen gerungen haben – und das nicht nur im Alten Schloß, wo manche der Delegierten untergebracht waren. „Die Ausschüsse haben überall getagt“, sagt Huber, „bei schönem Wetter auf der Wiese und auch bei uns im Biergarten. Am Abend sind die Leute spazierengegangen, links um das Schloß ’rum, rechts um das Schloß ’rum.“ Huber, damals 26 Jahre alt, kam während dieser Tage ziemlich ins Schwitzen: „Ich mußte alles erfassen: was gegessen wurde, die Telephonate, die Übernachtungskosten.“ Für die Nahrungsmittel ruderte er jeden Tag zum Festland. Am Ende summierten sich die Ausgaben auf 22 000 Mark. Noch einmal soviel kostete die Telephonrechnung – obwohl es nur zwei Anschlüsse gab, um die sich vor allem die Journalisten balgten. Auch bei der Informationsbeschaffung bediente sich die schreibende Zunft offenbar auch unkonventioneller Methoden: Um vorab an die Durchschläge der Protokolle zu gelangen, soll einer mit Carlo Schmids Sekretärin angebandelt haben.

Die emsigen Verfassungsrechtler haben die Herreninsel in den beiden Wochen nur selten verlassen. Überliefert ist ein Ausflug nach München, mit Teestunde im Bayerischen Hof, einem Besuch im Haus der Kunst und einem Nachtessen in der Gaststätte Holzmüller für 41 Personen einschließlich der drei Musiker. Das Mahl bereitete noch einigen Ärger, weil der Wirt 82 Gläser Cognac berechnete, obwohl „eine größere Anzahl von Gästen sich kein zweites Mal mehr eingießen ließen“, wie der bayerische Staatsminister Anton Pfeiffer damals versicherte. Ein richtiges Fest hat es erst am letzten Abend gegeben, als der Yachtclub auf der Insel sein Jahresfest feierte. Max Huber: „Mein Vater hat die Konvent-Teilnehmer gefragt, ob sie etwas dagegen haben. Und die Experten antworteten: ,Nein, gar nicht! Wir wollen mittanzen. “ Der Sommerball war der krönende Abschluß der Klausur, in der die elf Bevollmächtigten der Bundesländer und der Vertreter Berlins gemeinsam mit ihren 20 Mitarbeitern und Sachverständigen um Antworten auf knifflige verfassungspolitische Fragen rangen.

50 Jahre, viele rauschende Feste und trockene Seminartagungen später, bereitet sich das Schloßhotel wieder auf einen großen Empfang vor. Am Sonntag erwartet Hans, der Sohn von Max Huber, rund 800 geladene Gäste aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Pünktlich zum Jahrestag ist im Alten Schloß die Ausstellung „Herrenchiemsee – Die Wiege des Grundgesetzes“ fertig geworden. „Das Jubiläum ist ein günstiger Anlaß, um über eine neue Bewertung des Verfassungskonvents nachzudenken“, sagt der Historiker Manfred Treml vom Haus der Bayerischen Geschichte, das im Südflügel eine Dauerausstellung eingerichtet hat. 750 000 Mark haben die Historiker mittlerweile ausgegeben, um mit Dokumentarfilmen, Tonbandaufnahmen und Texttafeln das verfassungsprägende Gewicht des Herrenchiemseer Konvents speziell für Laien kenntlich zu machen.

Doch das ist nicht so einfach. Auch über dem Alten Schloß schwebt der unrepublikanische Geist des Märchenkönigs. Auf drei Etagen hatte sich Ludwig II. 1873 eingerichtet, um den Bau seines Neuen Schlosses zu beobachten. Dort, wo der Konvent zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, dem „Verfassungszimmer“ im ersten Stock, hatte Ludwig seinen Speisesaal. Nebenan, mit Blick auf Fraueninsel und Berge, empfing er Staatsbesuch, ein Zimmer weiter ging er zu Bett – umgeben von goldenen Bourbonen-Lilien auf königsblauem Tapetengrund. So erfährt der Museumsbesucher über die Flure wandernd ebenso viel über die Gewohnheiten des seltsamen Monarchen wie über die Geburtshelfer des Grundgesetzes. Dennoch hofft der Historiker Treml, daß die Zeitgeschichte stärker ins Bewußtsein rückt. „Die Leute sollen sehen, daß auf der Insel mehr war als die Theaterkulisse des Schlosses.“

Die wenigen ausgesuchten Besucher, die das Verfassungszimmer während der zurückliegenden 50 Jahre aufsuchten, betraten eine Rumpelkammer. „Interessant, daß ein Staat seine Symbole und Insignien so verkommen läßt, daß er sich ihrer erst zum 50. Jahrestag erinnert“, sagt einer spitz, der selbst zu den Repräsentanten dieser Republik zählt und deswegen Kritik lieber anonym äußert. Zeitweise soll das Verfassungszimmer sogar Feriengäste beherbergt haben, die über Kontakte zur Schloßverwaltung nach Herrenchiemsee kamen. Ob ihnen im Traum der Geist der Monarchie erschien oder der Geist der Republik, ist nicht überliefert. Nicht einmal der einzige sichtbare Hinweis, eine in die Fassade eingelassene Gedenktafel, war dazu angetan, die Aufmerksamkeit der Insel-Touristen zu erregen. Die Tafel hängt einige Meter über den Köpfen der Ludwig-Pilger. Wer sie findet, muß sich den Nacken verrenken, um sie zu entziffern.

Andererseits hat bisher kaum einer nach den Spuren des demokratischen Neubeginns gesucht. Eine Ausnahme ist der Schauspieler Christian Doermer, der vor elf Jahren durch einen Zufall auf den Verfassungskonvent aufmerksam wurde. Der bekennende Alt-Linke, der sich zugleich einen „Patrioten des Grundgesetzes“ nennt, schuf darauf das „Chiemsee-Stipendium“. Damit lockte Doermer zum Beispiel den ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker oder den Berliner Verfassungsrechtler und Schriftsteller Bernhard Schlink an den Chiemsee – eine TV-Gesprächsrunde zur Finanzierung eingeschlossen. Heuer kommt Jutta Limbach für zwei Tage.

Aufgemöbeltes Verfassungszimmer

Tassilo Krämmer, Wirt auf der Fraueninsel, hat „nur selten“ Gäste, die ihn auf den Konvent ansprechen. Dabei war auch seine Insel zumindest organisatorisch involviert: Einige Delegierte und die Sekretärinnen des Konvents waren hier einquartiert. Krämmer, 1948 aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, hat, wie die meisten seiner Zeitgenossen, wenig vom Geschehen mitbekommen. „Wer hat da schon an große Politik gedacht? Jeder war froh, daß er genug Geld zum Überleben hatte und gesund war“, sagt er und erzählt, wie die Insulaner damals Gemüse auf jedem Flecken Erde angebaut haben und auch Tabak, der, gut verpackt, im Misthaufen fermentierte.

Kürzlich hat sich Krämmer wieder einmal im Alten Schloß umgesehen, auch im aufgemöbelten Verfassungszimmer. Er sagt, das Geld sei gut angelegt. Schließlich solle den Besuchern gezeigt werden, daß hier in Umrissen das Grundgesetz entstanden ist. „Dafür ist es schon ein würdiger Raum.“ Der Wirt vom Schloßhotel auf der Herreninsel, Hans Huber, gibt dem neuen Museum keine so günstige Prognose: „40 Prozent meiner Gäste sind Ausländer, und die interessieren sich nicht für die deutsche Verfassung.“

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